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Bericht über die ehrenamtliche Tätigkeit im Hospiz von Patrick Rigert

Einleitung

Vom November 2018 bis März 2019 habe ich den Grundkurs 55 «Begleitung in der letzten Lebensphase» bei Caritas Luzern absolviert. Diese Ausbildung hat mich ausserordentlich angesprochen, innerlich berührt und das grosse Interesse in mir geweckt, mich nach Abschluss des Grundkurses vertieft mit den Themen «Sterben, Tod und Trauer» zu befassen. Das starke Interesse an der Sterbe- und Trauerbegleitung ist eine weitere Station auf meinem neuen Weg, beruflich immer mehr im direkten Kontakt mit Menschen stehen zu wollen und mich immer weniger auf abstrakte Themen wie Wissenschaft, Technik und Prozesse zu fokussieren. Es ist ein Ruf, der mich erreicht hat, … und zukünftig vielleicht zu einer Berufung werden könnte.

Mit der Eröffnung des Hospizes im Januar 2020 durfte ich die ehrenamtliche Tätigkeit als Begleiter aufnehmen. Ich freue mich nach wie vor sehr darüber! In den ersten Monaten meiner Begleiter-Tätigkeit durfte ich durchschnittlich einen ca. 5-stündigen Tageseinsatz wöchentlich leisten. Um jedoch den vorliegenden Praktikumsbericht (Anmerkung Redaktion: als Abschluss der Sterbebegleiter-Ausbildung) verfassen zu können, wurde mir die Möglichkeit gegeben, über Ostern 2020 drei Tage in Folge einen Hospiz-Einsatz zu leisten. Es war mir selbst sehr wichtig, einige zusammenhängende Tage mit den Menschen im Hospiz in Kontakt zu sein und mir damit meiner diesbezüglichen Wahrnehmungen, Gefühlen und Erfahrungen besser bewusst zu werden. Ich bedanke mich hiermit ganz herzlich beim Hospiz, welches mich in meinem Anliegen wohlwollend unterstützt hat.

In den folgenden Beschreibungen werde ich die für mich während dem Praktikum wichtigsten Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse gegliedert nach Einsatztag zusammenfassen.


Tag 1
Wenn ich durch die Haustüre an der Gasshofstrasse 18 das Hospiz betrete, habe ich jeweils das Gefühl, mich in eine andere Welt zu begeben. Alles im Haus wirkt so viel ruhiger und entschleunigter als draussen auf der Strasse und Zeit scheint plötzlich eine untergeordnete Rolle zu spielen. Und das obwohl die Zeit im Hospiz in meiner Wahrnehmung so viel schneller vorbeizugehen scheint! Dafür nimmt «Raum» eine viel wichtigere Stelle ein. Mein Einsatz beginnt um 10:30 Uhr und dauert bis 16.00 Uhr. Die freundliche Begrüssung der Pflegerinnen, der Reinigungsfachfrau und der Köchin sind an diesem frischen Morgen ein grosser Aufsteller.

In der Nacht zum ersten Tag ist ein junger Patient gestorben. Er war nur kurz im Hospiz und starb nach wenigen Tagen Aufenthalt. Für mein Verständnis in einem Alter von unter 40 Jahren viel zu früh. Da er zwei Tage im Hospiz aufgebahrt sein wird, dürfen wir mit zahlreichen Abschiedsbesuchen von Familienmitgliedern und engen Freunden rechnen. Besuche sind in palliativen Einrichtungen wie dem Hospiz glücklicherweise auch in Corona-Zeiten noch möglich. Allerdings nur unter Berücksichtigung von einschränkenden Vorsichts- und Hygienemassnahmen.

Eine meiner Aufgaben ist es, Besucher zu begrüssen, im Hospiz eintreten zu lassen – und sie in der gegenwärtigen, aussergewöhnlichen Zeit über unsere Corona Vorsichtsmassnahmen und erwarteten Verhaltensweisen zu informieren. Gerade heute stehen aufgrund des Hinschieds des jungen Patienten einige Besucher auch weinend vor der Tür, um Abschied zu nehmen. Es fällt mir nicht leicht, in Anbetracht der für die Gäste traurigen und schwierigen Situation und aufgrund von deren gezeigten Gefühlslagen auf Corona bedingte Einschränkungen hinzuweisen. Schlussendlich jedoch geht es um unser aller Schutz und die Gesundheit. Daher kann ich das auch gut akzeptieren und vermitteln.

Als ich den Essraum betrete, begrüsse ich Herrn X. Er befindet sich gerade alleine im hellen, freundlichen und sehr heimeligen Raum, im Rollstuhl an einem grossen Tisch sitzend, jedoch geistig abwesend. Scheinbar nimmt er mich und meinen Gruss nicht zu Kenntnis. Ein kleines Stück heraushängendes Brot ist in seinem geöffneten Mund sichtbar. Kurz hebt er unerwartet seinen Kopf, richtet seinen Blick auf mich, ohne mich wirklich anzusehen, um dann seinen Kopf auch gleich wieder zu senken. Er ist somit mindestens teilweise hier, und zeigt das einfach anders als ich es mir in meinem sonstigen Leben und Umfeld gewohnt bin. Eine wertvolle Erfahrung! Ich bin auch überrascht: das für viele möglicherweise etwas abstossende Bild des Patienten mit dem Stück Brot im Mund erschreckt mich nicht. Ganz im Gegenteil, ich versuche dem Patienten mit einem freundlichen Lächeln etwas Wärme und Freude zu schenken. Einige Minuten später wird Herr X. durch die Pflege zurück in sein Zimmer gebracht. Er wird im Verlaufe des Tages noch Besuch seiner Frau und der Tochter erhalten.

In der Küche erwartet mich die Köchin. Aufgaben von mir sind es, die Tische für die Mittagessen zu decken, Essen und Getränke an Patienten und Gäste zu servieren und auch tatkräftig beim Abwasch mitzuhelfen. Aufgrund des sehr sonnig-warmen Wetters werden heute einige der Patienten mit ihren Gästen draussen im herrlichen Garten essen wollen. In meiner Begleittätigkeit nehme ich dabei die Gastgeber-Rolle wahr. Generell sorge ich mich in dieser Rolle um das Wohlergehen von Patienten und Gästen beim Aufenthalt in den öffentlichen Wohn- und Essensbereichen des Hospizes. Das sind Tätigkeiten, welche nicht unbedingt etwas mit Sterbebegleitung und dem damit vielleicht verbreiteten Bild des «am Bett sitzen» zu tun haben. Und sie waren auch nicht Thema beim Caritas Grundkurs. Trotzdem sind das meiner Ansicht nach wichtige Aufgaben, denn sie unterstützen dabei, sich im Hospiz wohl zu fühlen und verhelfen den Patienten zu einer verbesserten Lebensqualität in deren letzter Lebensphase. Ich merke, auch die Gastgeberrolle macht mir Freude und liegt mir. Sie gibt mir die Möglichkeit, auf einfache Weise mit Patienten und Besuchern ins Gespräch zu kommen. Die Themen sind glücklicherweise oft ganz andere und lebendigere als «nur» Sterben oder Tod. Und die Wertschätzung, die ich bei diesem Austausch oft erfahren darf, ist einfach unbezahlbar!

Am sonnig-warmen Nachmittag erhielt ich die Gelegenheit Frau Y. in ihrem Rollstuhl einige Zeit durch das Dorf Littau begleiten zu dürfen. Schon zu Beginn unseres gemeinsamen kleinen Ausflugs sagte sie, ich solle ihr etwas von Littau zeigen, das sie noch nicht kenne. Und an einem Brunnen sollen wir vorbeikommen, damit sie ihre Wasserflasche auffüllen könne! Frau Y. befindet sich schon einige Wochen im Hospiz, daher kenne ich sie schon ein wenig und sie mich. Sie nennt mich jeweils «Herr Patrick». Angehörige wie auch die Pflegerinnen schmunzeln, wenn sie das jeweils hören, und ich selbst fühle mich etwas geschmeichelt ob der feinen Verbundenheit und Vertrautheit, die sich in den letzten Wochen zwischen uns entwickelt hat. Vorsichtig bewegte ich die ältere Dame im Rollstuhl durch das Dorf, was ich sehr gerne tat und mich freudig erfüllte. Bei meiner Körpergrösse von 1.96 m war das Stossen dieses Rollstuhls allerdings nicht ideal und ich wünschte mir, die Ergonomie wäre in Form eines grösseren und damit höheren Rollstuhls etwas bequemer. Für 45 Minuten passte das aber. Den gewünschten Brunnen erreichten wir auf halbem Weg eher zufälligerweise, da ich noch nicht wirklich ortskundig im Zentrum Littau bin. Das wird sich im Verlaufe der nächsten Monate bestimmt ändern. Die Freude in den Augen von Frau Y. über den vor sich befindlichen Brunnen war merklich gross. Aufgrund ihrer Krebserkrankung war es ihr nur erschwert möglich, selbständig ihre Wasserflasche zu füllen. Daher unterstützte ich sie tatkräftig dabei, eine Hilfe, die sie gerne annahm.

Einige Minuten später kamen wir am Migros Outlet vorbei. Frau Y. fragte, was denn ein Outlet sei. Ich erkläre ihr, dass man dort Migrosprodukte zu deutlich günstigeren Preisen als in den normalen Migrosgeschäften erwerben kann. «Ach ja?» meinte sie erstaunt. Ich fragte, ob sie mit mir in den Laden fahren und sich umsehen möchte. Voller Entzücken bejahte sie, und so habe ich sie im Rollstuhl durch den gesamten Einkaufsbereich gestossen. Immer wieder hielten wir vor Regalen an und sie wollte jeweils wissen, was für Produkte das seien, die dort zum Verkauf angeboten wurden. Einen besonderen Gefallen hat sie an der übergrossen Kunststoff-Flasche gefunden, die mit Popcorn gefüllt war. Es war für mich offensichtlich; Frau Y. hat in diesen wenigen Minuten wieder Zugang zu ihrem früheren Leben ohne Krebserkrankung gefunden. Für wenige Momente waren alle Schmerzen, Sorgen, Ängste und die Trauer verflogen. Ein wunderbarer Moment auch für mich. Es sind genau Augenblicke wie dieser, die mich mit viel Motivation und Freude erfüllen, schwerkranke Menschen in ihrer letzten Zeit zu betreuen und begleiten. Einige Minuten später sind wir dann wieder zurück im Hospiz, beide sehr glücklich und zufrieden mit dem soeben Erlebten.

Tag 2
Auch an diesem Ostersonntag dauerte mein Einsatz von 10.30 bis 16 Uhr. Frau Z. befindet sich schon einige Tage im Hospiz. Einem mir zur Verfügung gestellten Informationsblatt konnte ich entnehmen, dass die Patientin keine Mahlzeiten mehr benötigt und auch nicht mehr aus ihrem Zimmer kommen wird. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich anscheinend sehr schnell. Persönlich habe ich sie noch nie zu Gesicht bekommen. Nach dem Mittag öffnete ich die Haustüre und drei Besucher von Frau Z. betraten das Haus. Ein älterer Mann begleitet von einem weiteren jüngeren Mann und einer Frau, beide ungefähr in meinem Alter, stellten sich vor. Ich wusste sofort, den jüngeren Mann kenne ich! Umgehend habe ich das auch erwähnt, und gesagt, dass wir uns schon gesehen haben und wir uns kennen sollten.

Er schmunzelte, zeigte auf meine Namenstafel am Hemd und meinte, dass er es im Gegensatz zu mir etwas einfacher als ich habe und neben meinem Nachnamen auch den Vornamen kenne. Es stellt sich heraus, dass er früher mit mir zusammen in die Primarschule gegangen war. Wir hatten uns damals sehr gut verstanden. Er war jedoch in die Nordostschweiz gezogen und es lagen mehr als 30 Jahre seit unserer letzten Begegnung. Es ist seine Mutter, die nun im Hospiz im Sterben liegt. Wir haben vereinbart, uns über LinkedIn zu vernetzen und nach dem Wegfall der Corona bedingten Einschränkungen wieder einmal treffen zu wollen. Welch ein schöner Zufall. Auch solche tollen Erlebnisse sind in einem Hospiz möglich! Ein Hospiz ist nicht nur Sterben und Tod, sondern auch ein Ort des Erlebens. Das gilt sowohl für Patienten wie auch Begleiter.

Frau X., eine weitere Patientin, hatte an diesem Tag Besuch von ihrem Mann. Er ist mit einem wunderschönen Blumenstrauss eingetroffen, den er ihr freudig übergeben hat. Frau X. ist im Vergleich mit anderen Patienten in einem noch etwas besseren gesundheitlichen Zustand. Nach dem Mittag waren sie und ihr Mann im Garten und ich habe mitbekommen, wie die beiden in einem ziemlichen Streit lagen. Herr X. hat seine Frau richtiggehend angeschnauzt und ihr gesagt, ihm passe «dies und das» nicht und hat gefordert, sie solle besser «dies und jenes» tun. Später als er auf dem Weg ins Gebäudeinnere war, sie jedoch noch draussen sitzengeblieben war, hat er lauthals «Komm jetzt endlich!» nach ihr gerufen. Ich fand es traurig, dass die beiden die wahrscheinlich sehr begrenzt verbleibende gemeinsame Zeit nicht friedlicher zu nutzen vermochten. Allerdings wurde mir ebenso klar, dass hier den Mann allenfalls auch Anteile von Wut, Verzweiflung und Schmerz zu seinen kränkenden Äusserungen bewogen haben.

Tag 3
Am letzten Einsatztag, am Ostermontag, dauerte mein Engagement von 16 Uhr bis 21 Uhr. Gegen Abend habe ich ein leichtes Nachtessen für die Patienten vorbereitet und entweder auf das Zimmer gebracht oder dann am grossen Esstisch im Aufenthaltsraum serviert. Am Ende eines Tages gibt es oft noch einiges aufzuräumen und zu versorgen. Diese Tätigkeiten haben mich bis fast um 21 Uhrbeschäftigt. Nach dem Nachtessen war es Frau Y. noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Sie bat mich, einige farbige Bilderbände aus der Bibliothek zu reichen, welche sie sich dann im Aufenthaltsraum anschauen könne. Sie sehe sich so gerne Landschaften an. Den Wunsch habe ich ihr gerne erfüllt. Über die Bildbände mit Bildern der Provence und dem Piemont hat sie sich sehr gefreut. Es hat mich in diesem Moment sehr beeindruckt, dass diese Frau in ihrer herausfordernden und oft schmerzvollen Situation die Kraft und den Willen findet, sich Bilderbände anzuschauen.

Nach 21 Uhr, als alle meine Aufgaben erfüllt waren, habe ich mir noch einen Kaffee gegönnt, ein Stück Kuchen gegessen und die vergangenen Tage Revue passieren lassen. Es waren drei sehr erlebnisreiche Tage mit zahlreichen schönen Begegnungen, interessanten Gesprächen und auch berührenden Momenten. Das was ich schon vor dem dreitägigen Einsatz gespürt habe, hat sich mir ganz klar bestätigt. Die Tätigkeit als Begleiter von schwerkranken und sterbenden Menschen ist eine Aufgabe, welche mich ausserordentlich erfüllt und die ich auch in Zukunft unbedingt wahrnehmen möchte. Das ist auch der Grund, wieso ich im März 2020 mit einer weiterführenden Trauerbegleiter-Ausbildung begonnen habe. Ich bin jetzt schon gespannt, wohin mich mein diesbezüglicher Weg in den nächsten Jahren führen wird.